„Wenn ich höre, dass jährlich Hunderte verzweifelter Patienten mit teils jahrzehntelangen Leidensgeschichten nicht nur Gehör, sondern auch zum ersten Mal eine Erklärung für ihre Leiden finden, dann ist das ein weiterer Beweis für meine Behauptung: Mittelhessen ist innovativ – sei es in der Wirtschaft, Forschung oder auch in der Medizin.“ Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich, Vorsitzender des Vereins Mittelhessen, besuchte das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen – kurz ZusE genannt – im Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM). Der Mediziner Prof. Dr. Jürgen R. Schäfer ist nicht nur Leiter des Zentrums, sondern seit September auch Botschafter Mittelhessens. In dieser Funktion hatte er den RP nach Marburg auf die Lahnberge eingeladen.
„Ein mittelhessischer Botschafter hat eine wichtige Aufgabe“, berichtet Christoph Ullrich, der sich auch als Vorsitzender des Vereins Mittelhessen e.V. für die Steigerung der Identität der Region Mittelhessen einsetzt. „Er nutzt seine Bekanntheit dafür, um sich genau dafür einzusetzen und öffentlich immer wieder über die Vorzüge zu sprechen, die das Leben und Arbeiten hier mit sich bringen.“ Professor Schäfer hat sich als „der deutsche Dr. House“ einen Namen gemacht. Er und sein Team werden immer dann aktiv, wenn sich Menschen an ihn wenden, die mit ihren speziellen Erkrankungen durch die Maschen der Medizin gefallen sind.
„Unser eigentlich vorbildliches Gesundheitssystem funktioniert im Großen und Ganzen hervorragend“, erläutert Schäfer bei einem Rundgang durch das Klinikgebäude. „Gerade auch in Mittelhessen haben wir dank dem UKGM und anderen Versorgern eine exzellente Situation, um die uns viele andere Regionen beneiden.“ Aber leider habe es an der einen oder anderen Stelle kleinere Lücken, durch die gerade Menschen mit seltenen oder komplexen Erkrankungen allzu leichtfallen. Dass das UKGM in Marburg für diese Menschen eine Anlaufstelle geschaffen habe, freue ihn sehr. „Dennoch, die Tausenden von Anfragen aus der ganzen Republik schaffen wir alleine als kleines Zentrum nie, hier brauchen wir und unsere Patienten dringend mehr bundesgesundheitspolitische Unterstützung.“
Der Besuch führt in einen unspektakulären Raum, vollgestellt mit Schreibtischen, Computern, Scannern und Druckern, vor allem aber mit vielen Akten. Dieser wenig attraktive Raum ist die Denkfabrik des ZusE. Hier bearbeiten Dr. Tanja Nickolaus, Dr. Katrin Richter-Bastian und Dr. Julia Sharkova medizinische Fälle mit dem notwendigen Gespür von gewieften Detektivinnen. Es sind mit die kompliziertesten Fälle aus ganz Deutschland, die von anderen Ärzten aus oft unterschiedlichen Disziplinen ohne schlüssige Diagnose aufgegeben worden sind. Hinter jedem Fall steckt ein bewegendes Patientenschicksal. „Manchmal bringt uns ein einziger Wert in einer oft jahrelangen Leidensgeschichte auf die richtige Spur“, erklärt der als „Arzt des Jahres 2013“ und für seine Lehrmethoden preisgekrönte Mediziner.
Viele Stockwerke tiefer befindet sich im Keller das zweite Herzstück des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen: Das Labor oder „der Maschinenraum“, wie Schäfer sagt. Das ist etwa zehn Mal so groß wie das kleine, dunkle Büro des Professors. Und das darf es auch gerne sein, wie Jürgen Schäfer betont: „Wichtiger als protzige Büros sind uns gut funktionierende Arbeitsbereiche. Hier haben wir die modernsten Methoden zur Analyse, vom Massenspektrometer bis hin zum Gensequenzierer, dafür bin ich sehr dankbar.“ Hier finde Grundlagenforschung und Klinik zusammen.
„Es ist ein Privileg und eine Stärke der Marburger Universitätsmedizin, solch enge Verbindungen zu haben.“ Dr. Volker Ruppert und Dr. Muhidien Soufi sind die zwei Experten, die mit High-Tech aus Blut-, Stuhl- oder Gewebeproben der Patienten mysteriöse Fälle lösen. Dabei arbeitet das ZusE-Team nicht nur mit den Instituten am Klinikum in Marburg eng zusammen, sondern auch mit der Schwesterklinik in Gießen und der Technischen Hochschule Mittelhessen. Selbst die Tiermediziner der Justus-Liebig-Universität werden ab und an bei speziellen Fragestellungen zu Rate gezogen.
Für solch komplizierte Patienten, wie sie das ZusE immer wieder zu sehen bekommt, ist die Region Mittelhessen mit all den Forschungseinrichtungen ein absoluter Glücksfall. „Nicht nur, dass wir exzellente Kliniker und Forscher in Mittelhessen recht nah beisammen haben und dank dem Hessen-Ticket auch alle rasch erreichen können“, sagt Schäfer, „es ist die unglaubliche Hilfsbereitschaft all der Kolleginnen und Kollegen in unserer Region, die uns bei vielen Problemfällen enorm weiterhilft.“
So wie etwa bei dem Patienten, dessen Laborwerte im ZusE-Labor auf einen Parasitenbefall durch einen tropischen Wurm hinwiesen. Zur definitiven Klärung verhalf dem ZusE-Team letztendlich ein Tierarzt, der das Wurmei aus dem Stuhl des Patienten isolieren konnte. Auf Rückfrage stellte sich heraus, dass der Mann zwar nie in den Tropen war, dafür aber als begeisterter Aquarist zahlreiche Wasserbecken mit tropischen Fischen und Schnecken in Betrieb hatte. Der eigentlich nur in den Tropen vorkommende Erreger muss durch frisch importierte tropische Fische und Schnecken ins Haus des Patienten geraten sein. Dank der Diagnose konnte der Patient in drei Tagen medikamentös therapiert und von dem oftmals zum Tode führenden Parasiten befreit werden.
„Wir wissen es zu schätzen, dass wir uns hier genügend Zeit für jeden einzelnen Menschen nehmen können. Ein engagiertes Team, genügend Zeit zur medizinischen Detektivarbeit und die Infrastruktur einer modernen, patientenbezogenen Universitätsklinik sind für unsere Arbeit der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Professor Schäfer am Ende des RP-Besuchs. Dies sei das Geheimnis, warum das ZusE selbst im Deutschen Ärzteblatt als „Letzte Hoffnung Marburg“ bezeichnet worden ist.