Jedes Jahr verlassen tausende qualifizierte Absolventen die drei mittelhessischen Hochschulen. Doch laut einer aktuellen Studie der Philipps-Universität Marburg im Auftrag der Regionalmanagement Mittelhessen GmbH (RMG) nutzt die regionale Wirtschaft diesen Standortvorteil zu selten: Über die Hälfte der hiesigen Uni-Abgänger versuchen erst überhaupt nicht, in der Region einen Job zu finden, und nur ein Bruchteil der Studierten wird hier fündig.
„Die Aufgabe muss darin bestehen, die Transparenz der Karrieremöglichkeiten in Mittelhessen herzustellen“, kommentiert RMG-Geschäftsführer Jens Ihle das Papier. Das Resultat sei „Auftrag und Chance für die Region“ zugleich, fügt er hinzu. Gleichzeitig kündigt Ihle Initiativen an, um die Vermittlung von Fachkräften zu fördern – darunter das Portal Mittelhessen Connect, dass noch diesen Sommer starten soll.
Die Forschungsarbeit ist das Ergebnis einer Nachbefragung, die die Arbeitsgruppe für Wirtschaftsgeografie und Standortforschung unter der Leitung von Prof. Thomas Brenner im vergangenen Jahr gemacht hat. Adressaten waren ehemalige Studierende, die in einer ersten Untersuchung 2012 darüber befragt wurden, ob und wie sie nach ihrem Hochschulabschluss in Mittelhessen auf Jobsuche gehen. Schon diese Befragung hatte Defizite bei der regionalen Bindung künftiger Fachkräfte aufgezeigt. So vermissten die Teilnehmer den Anschluss an regionale Unternehmen zum Beispiel durch Praktika, Abschlussarbeiten und Nebenjobs; sie wünschten sich aber auch eine besser Karriereberatung der Universitäten. Die aktuelle Umfrage sollte nun die Frage klären, welchen tatsächlichen Erfolg die Arbeitssuche in der Region für die Betroffenen hatte – und woran sie gescheitert sind.
Vor allem weist die Studie auf ungenutzte Potenziale hin: Immerhin rund 40 Prozent der befragten Absolventen hätten einen Job in Mittelhessen in Erwägung gezogen, erläutert Brenner das Ergebnis. Etwa die Hälfte der übrigen 60 Prozent ziehe es aus persönlichen Gründen in andere Gegenden – „die haben irgendwo anders Familie, einen Freundeskreis oder Partner“. Die andere Hälfte wolle eher aus Sympathie-Gründen in andere Regionen, „etwa weil München so schön ist“. Aber auch diese Gruppe könne man ja „irgendwie überzeugen“, das auch Mittelhessen eine interessanten Option sei, meint Brenner. Insgesamt ergebe dies ein Potenzial von 70 Prozent der Studienabgänger, die bei der regionalen Zukunftsplanung noch irgendwie zu erreichen seien.
Das wirtschaftliche Image einer Region scheint auch bei der Entscheidung für den Studienweg bedeutsam zu sein: „Viele Studierenden kommen nach Marburg, um Ihren Bachelor zu machen und gehen nach drei Jahren wieder“, berichtet Brenner über die Erfahrungen an seinem Institut. Sie verließen die Uni nicht etwa, weil ihnen das Studienangebot nicht passe. Die wollten ihren „Master an einer Stelle machen, wo es nachher Jobs gibt.“ Und als solche werde die Region nicht wahrgenommen. Dabei sei auch die Selbstdarstellung der Unternehmen im Internet von Bedeutung – zum Beispiel durch mehr Transparenz bei den Karrieremöglichkeiten. Aber auch die Ansprache von Studierenden durch ein gezieltes Angebot von Praktika sei wichtig. Das spiele „eine ganz extreme Rolle“, sagt der Forscher.
Die Studie liefert auch Anhaltspunkte, warum sich Abgänger trotz Suche in der Region schließlich anderweitig orientieren: Bei der Frage, „welche Jobs haben Sie abgelehnt“, sei die häufigste Antwort „ungenügende berufliche Möglichkeiten“ und erst dann „zu niedriges Gehalt“ und „keine Nähe zu Freunden oder Partner“. Dabei müsse die Frage gestellt werden, „wer in mittelständischen und wer in großen Firmen einen Job sucht“, erläutert Brenner. Während Unternehmen wie Siemens bessere Entwicklungschancen böten, könnten die mittelhessischen Mittelständler mit mehr Mitwirkungsmöglichkeiten punkten. Vor allem hier sieht RMG-Geschäftsführer Jens Ihle eine Chance für die Region: „Wir müssen die richtigen Leute vermitteln.“
Die größer werdende Anzahl von gut ausgebildeten Hochschulabsolventen in der Region Mittelhessen biete ein großes Arbeitskräftepotential für hiesige Unternehmen, „das es zu nutzen gilt“, heißt es auch in der Brenner-Studie. „Wir sehen die über 65.000 Studierenden als ‚Wert‘ und die Tatsache, dass sie hier sind, als Chance“, betonte Ihle. Und: „Das sind potenzielle Bürger, denen wir zurufen wollen, ‚schön, dass ihr hier seid‘. Mit Prof. Brenner habe das Regionalmanagement einen kompetenten Partner gefunden, der helfe, diese Zielgruppe besser zu verstehen.
Um die gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen, arbeitet die RMG zurzeit unter anderem an einer internetgestützten Plattform, um Arbeitsuchende und Unternehmen in der Region besser zusammen zu bringen. „Das wird eine echte Innovation“, sagt der RMG-Geschäftsführer. So soll das „Matching-Tool“ mit Namen Mittelhessen Connect, das in Kooperation mit dem Kölner Unternehmen Talents Connect entsteht, Wünsche und Charakteristika von Job-Aspiranten und Firmen in ähnlicher Weise berücksichtigen, wie es sonst nur bei Partnersuchportalen der Fall ist.
Bewerber wie Unternehmen legen bei Mittelhessen Connect zu diesem Zweck Profile an, die dann abgeglichen werden. „Schließlich sollen auch Absolventen und Unternehmen möglichst dauerhaft zueinanderfinden“, sagt Ihle. „Mitte des Jahres sind wir damit am Start.“ Eine weitere Initiative soll den Austausch zwischen Wissenschaft und unternehmerischer Praxis in Mittelhessen verbessern und den Wissenstransfer fördern. Nähere Details hinzu will das Regionalmanagement in den kommenden Wochen bekannt geben.