Gießen hat die höchste Studierendendichte aller deutschen Städte. Dennoch nimmt die Region um die Universitätsstadt beim Anteil von Akademikern in der Bevölkerung bundesweit nur einen hinteren Platz ein – Nr. 75 laut einer Erhebung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Wie erklärt sich dieses Missverhältnis? Eine Frage, der sich Master-Studierende der Betriebswirtschaftslehre und der Geographie der Justus-Liebig-Universität vor kurzem während eines fachübergreifenden Seminars in Gießen stellten. Unter den beratenden Experten: Jens Ihle, Geschäftsführer der Regionalmanagement Mittelhessen GmbH, der bei dieser Gelegenheit den Teilnehmer ein wenig den Wind aus den Segeln nahm: Denn ein Lösungsansatz der Seminarteilnehmer gegen den „Braindrain“ wird in Mittelhessen bereits umgesetzt.
Vor diesem Hintergrund haben die Studierenden des Seminars, das von Dr. Christian Diller, Professor für Stadtgeographie und Raumplanung an der Gießener Justus-Liebig-Universität, mit dem Marketing-Professor Alexander Haas und Stephan Volpers (Professur für Marketing und Verkaufsmanagement) geleitet wurde, Strategien entwickelt, um Mittelhessen „auch im Kontext der Metropolregion Frankfurt zu positionieren“. Einige Tage später erörterten Christian Diller und Alexander Haas die Ergebnisse bei einem Treffen mit Jens Ihle und Regionalmanager Christian Piterek in den Gießener Büros des Regionalmanagements. Für Ihle ein klares Bekenntnis der Akademiker zur Region: „Die Hochschule zeigt ihre Verwurzelung in Mittelhessen.“
„Für die Intention, sich bei einem Arbeitgeber zu bewerben, ist die Attraktivität der Region genauso wichtig, wie die Attraktivität des Unternehmens selbst“, sagte Diller in dieser Runde. Hier gelte es, Marketing-Ressourcen von Unternehmen und Region zu bündeln. Doch ein Aspekt sei noch wichtiger: „Eine größere Rolle spielen zum einen Informationsdefizite“, sagte Diller. Zum andern wüssten die regionalen Betriebe die Lebensqualitäten der Region zum Teil zu wenig für ihre Anwerbestrategien zu nutzen. „Dabei sprechen die günstigen Lebenshaltungskosten, die gute Erreichbarkeit, eine hohe Umweltqualität und ein durchaus hochwertiges und modernes Kulturangebot für die mittelhessische Region. Während ihrer Abschlusspräsentation hätten die Studierenden daher den Slogan „Auf die inneren Werte kommt es an“ entwickelt, um auszudrücken, dass „sich Vorurteile über Mittelhessen schnell abbauen, wenn man die Region besser kennt“, berichtete Ihle.
Zudem hätten die Seminarteilnehmer Maßnahmen vorgeschlagen, von denen einige bereits vom Regionalmanagement umgesetzt werden, die es aber zu intensivieren gelte, wie es hieß. Neben „Career Days“ und Stärkung des Profils als Kultur- und Einkaufsregion zielten die Studierenden auch auf „Anwendungen für mobile Endgeräte“ ab, die Job-Möglichkeiten transparenter machen – so, wie es sie unter anderem bereits in Form der Job-Matching-Plattform Mittelhessen Connect (www.mittelhessenconnect.de) gibt. „Das zeigt, dass wir zuhören und mit unseren Projekten auf dem richtigen Weg sind“, sagte dazu der RMG-Geschäftsführer. Das Regionalmanagement habe schon vor einiger Zeit erkannt: „Wir müssen uns mehr auf den Mittelstand fokussieren; wir müssen Kompetenzen für ‚Human Ressources‘ missionieren.“
„Der Faktor Mensch ist der Erfolgsfaktor“, bestätigte auch Marketing-Professor Haas. „Das macht für einen Betrieb oft den Unterschied zwischen ‚nur okay‘ und ‚durchstarten‘ aus. Auch Theaterwissenschaftler und Germanisten könnten für Unternehmen dort den Unterschied machen, wo bislang „nicht die Notwendigkeit für akademischen Nachwuchs“ gesehen werde. Vor diesem Hintergrund treibe Mittelhessen Connect eine Neuausrichtung des Bewerbungsprozesses voran. Denn: „Es ist hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass es ein ganzer Mensch ist, der eingestellt werden soll“, sagte Ihle. Fachliche Qualifikationen könnten Unternehmen gerade bei jungen Menschen „nachziehen“, „Aber die individuelle Persönlichkeit eines neuen Mitarbeiters ändert kein Chef so leicht.“
Für den Berufsstart in der Region biete Mittelhessen Connect, das in seinem Algorithmus auch Persönlichkeiten von Bewerbern zum Kriterium macht, daher eine „neutrale Instanz, die eine Empfehlung ausspricht“. Das wissenschaftliche Prinzip dahinter wurde von der Kölner Firma Talents Connect mit Unterstützung des Kölner Instituts für Managementberatung entwickelt. Ein Ansatz, den auch die Gießener Forscher unterstützen: „Im Mittelstand herrscht oft die Denke, ‚es reicht, es läuft ja gut‘“, resümierte Haas. Und dann würden Chancen häufig nicht gesehen.