„Mit Herz und Fantasie kann digitale Bildung gelingen!“ Diese zentrale Ansage im Vortrag der Psychologin und Buchautorin Verena Hasel fasste die Beiträge beim Bildungsforum Mittelhessen 2022 gut zusammen. Die Veranstaltung des Regionalmanagements Mittelhessen fand in diesem Jahr Coronabedingt online statt und über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beteiligten sich an dem hybriden Format, das aus dem Studio der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) im Gießener Löbershof gesendet wurde. Wie Digitale Bildung in anderen Regionen der Welt aussieht, beschrieb der Lehrer und Bildungsforscher Alexander Brand in seinem Beitrag. Regionale Expertinnen und Experten brachten die mittelhessische Perspektive aus Schule, Hochschule und Wirtschaft in einer Diskussionsrunde ein. Die überregionale Bedeutung der Veranstaltung machte das Grußwort der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger deutlich: „Wenn wir den Fortschritt im Land wollen, müssen wir bei der Digitalisierung in der Bildung anfangen“, sagte die hessische FDP-Politikerin.
„Digitalisierung ist dabei kein Selbstzweck“, fügte die Bundesministerin im Gespräch mit Moderatorin Kati Ahl hinzu. Sie helfe aber dabei, „unsere Schulen auf Vordermann“ und „auf ein zeitgemäßes Niveau“ zu bringen. „Ein Niveau, das unserem Anspruch als Industrienation und Kulturnation dann auch gerecht wird.“ Dabei schade nie ein Blick ins Ausland, denn „was andernorts möglich ist, muss auch in Deutschland machbar sein“, betonte die Ministerin. Dies sei „Inspiration und Anspruch“ zugleich.
Dass diese Inspiration durchaus von der anderen Seite des Globus kommen kann, machte Verena Hasel mit ihren Erfahrungen aus neuseeländischen Schulen deutlich: Wie „Herz und Fantasie“ dort eingebracht werden, zeigte sie am Beispiel eines Schulleiters, der in der Pandemie seine Schülerinnen und Schüler im Lockdown jeden Morgen live begrüßte und dabei auch Geburtstage nicht vergaß. „Das Fundament von Lernen sind Beziehungen“, sagte die Co-Initiatorin des „wirfürschule-Hackathons“ 2021.
Das Fundament von Lernen sind Beziehungen
In Neuseeland ersetze eine App die in Deutschland üblichen Postmappen, doch Hasel verdeutlichte auch die Bedeutung der Weiterbildung im Lehrkörper. „Digitale Bildung ist viel mehr als Arbeitsblätter.“ Sie appellierte, das Internet als Chance zu sehen. „Wer das Netz als notwendiges Übel ansieht, kann keinen guten digitalen Unterricht machen.“ Wie wichtig dieser Hinweis ist, zeigt die Friedrich-Ebert-Stiftung 2019: Hasel zufolge zeigen sich 37 Prozent der Studien-Teilnehmenden von der Digitalisierung verunsichert zeigten. Auch nach zwei Jahren Pandemie machten Lehrende vieles besser, „werden aber häufig allein gelassen.“ Es gebe in Deutschland gute Ansätze, diese seien aber wenig verbreitet. Zudem fehlten Standards. Nach Hasels Ansicht mache guten digitalen Unterricht aus, dass „was im Rechner passiert mit Dingen, die woanders passieren, verzahnt wird“. Dazu müssten Lehrer:innen aber mehr Freiheiten und Eigenverantwortung übertragen werden.
Wie sich die Digitalisierung auf die Lernkultur in anderen Ländern auswirkt, wollte der Lehrer und Bildungsforscher Alexander Brand ergründen und nahm dabei vor allem die „Bildungsmeister“ in Skandinavien, das Baltikum und Asien in den Fokus. So sei in Estland die „zuverlässige“ digitale Ausstattung der Schulen auch ein Ergebnis der notgedrungenen Digitalisierung des Landes nach der Unabhängigkeit, bei der vor allem Kosten und Effizienz eine Rolle spielten. In Finnland werde auch Abiturprüfungen digital abgenommen und Lehrende tauschten sich landesweit per App aus. Und in Singapur gab es bereits 1997 einen ersten „Masterplan zur Digitalisierung“.
Allerdings sei zwar die Digitalisierung in den von ihm besuchten Ländern „gelebte Realität“, dennoch habe er auch dort „träge Systeme“ erlebt, in denen eher traditionell frontal unterrichtet als das „Fächergrenzen durchstoßen werden“. Um eine kognitive Aktivierung der Schülerinnen und Schüler zu erreichen, sei wichtig, wie digitale Medien eingesetzt werden. Dabei bezog er sich auch auf das „Deeper Learning“ der Heidelberger School of Education, der zufolge es darauf ankommt, wie „Lernende sich substanzielles fachliches Wissen und handlungsrelevante Fähigkeiten aneignen können, um damit komplexe Probleme kreativ zu lösen“.
Eine den Keynotes folgende Podiumsdiskussion gab Gelegenheit, digitale Bildung aus den unterschiedlichen regionalen Blickwinkeln von Hochschule, Schule und Wirtschaft zu beleuchten. „Solange wir noch die Frage stellen: ‚wie unterrichten Sie denn digital?‘, steht immer noch die Technik im Vordergrund“, sagte Prof. Dr. Evelyn Korn, Vizepräsidentin der Marburger Philipps-Universität Marburg. Am liebsten würde sie das Audimax abreißen und durch Räume ersetzen, in denen Studierende digital und real in unterschiedlichen Gruppen zusammenarbeiten können. Über solche Räume verfügt Thomas C. Ferber, Leiter der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg, mit dem Konzept PerLenWerk. „Wir haben eine Insel geschaffen, die Vorbild sein könnte“, sagte Ferber. Ein Problem habe er aber mit starren Lehrplänen. „60 Prozent von dem was wir lehren, braucht kein Mensch mehr.“ Wichtiger seien mehr Zeit für flexibles Lernen und „Softskills“: „Wir brauchen keine neuen Fächer, wir brauchen einfach eine neue Form des Denkens“, machte der Schulleiter deutlich.
Die Grenzen digitaler Medien zeigte auf dem Podium Oliver Barta, Vice President Human Resources bei der Wetzlarer Bosch Thermotechnik GmbH, auf: „Bei uns findet Arbeit eben nicht nur im Büro statt.“ Wichtig sei es deswegen, Berufsbilder praktisch zu erfahren, zum Beispiel durch Betriebspraktika. Trotzdem sei auch die digitale Zusammenarbeit „nicht mehr wegzudenken“. „Ich glaube, dass wir uns dual aufstellen müssen“, sagte Barta und wies dabei auf die Bedeutung eines überall verfügbaren und zuverlässigen Netzausbaus hin.
In vier Sessions mit den Titeln „Frauen und Digitalität – nicht ohne meine Lehrerin!“, „Widerstände überwinden – Bildungssysteme verändern“, „Wirtschaft & Schule – Berufsorientierung 4.0“ und „Digitalität in der Lehre/Bildungsprozesse – Blick in die Zukunft“ hatten die Gäste am Nachmittag Gelegenheit, das zuvor Gehörte und Gesehene untereinander in virtueller Runde zu diskutieren. Frauen ließen sich eher auf digitale Medien ein, „wenn sie einen klaren Nutzen sehen“, sagte Dr. Monika Braun (Philipps-Universität Marburg) zur Frage des Gender-Gaps in der Session „Frauen und Digitalität“. Wichtig sei auch ein starkes Mentoring, „um Hürden abzubauen“. „Es braucht Willen und Leitung, um Systeme zu verändern“, sagte Anne Leibfried von der Universitätsstadt Marburg aus der Session „Widerstände überwinden“. Beim Umgang mit Bedenken riet Leibfried zur Fokussierung auf „das engagierte Drittel“ unter den Entscheidungsträgern, um ihnen die Macht zur Umgestaltung zu geben. „Digitale Medien sind nicht geeignet zu vermitteln, wie sich etwas anfühlt“, sagte Natascha Baumann von der Carl Zeiss SMT GmbH zum Thema „Berufsorientierung 4.0“. Daher seien Praktika vor Ort unabdingbar – auch, um dem Mangel an Auszubildenden entgegenzutreten. Und Jochen Leeder vom Regionalen Medienzentrum Gießen-Vogelsberg machte zum Thema „Digitalität in der Lehre/Bildungsprozesse“ deutlich, dass zunächst Lehrpläne „entschlackt“ werden müssen, um Raum für Innovationen zu schaffen. Dabei sollten Ideen und Kreativität über dem Aneignen von purem Wissen stehen. „Schule muss sich zu einer Lern-Community entwickeln, in der Alle von Allen lernen.“
Die Veranstaltung wurde von der Fachbuchautorin und Schulentwicklungsberaterin Kati Ahl moderiert, der Dr. Gerd Hackenberg (IHK Lahn-Dill) als Leiter des Netzwerks Bildung ebenso dankte wie allen Beteiligten vor und hinter den Bildschirmen.